Einblicke in die Welt auf 4 Pfoten

 

Alle 2 Jahre bin ich auf der Interzoo Messe in Nürnberg als Aussteller. Das ist die weltweit größte Messe für den Heimtierbedarf. Zum 34. Mal fand sie im Mai statt und 1800 Firmen aus aller Welt stellten ihre Produkte und Neuheiten auf zum Teil kreativ gestalteten und beeindruckenden Messeständen vor. Was, um Himmels willen, könnte es auf diesem Sektor noch Neues geben? Ist nicht alles erfunden vom aromatisierten Trinkwasser für den Hamster bis zum glutenfreien Katzensnack, von der funktionalen Outdoorbekleidung für den Hund bis zur stilvollen Urne für den dahingeschiedenen Liebling?

 

Fakten, Fakten, Fakten

 

Nun, wir sprechen von einem Weltmarkt, der auf über 92 Mrd. Euro gewachsen ist. Davon entfallen auf Westeuropa fast 27 % (auf Deutschland rund 4 Mrd.), auf Nordamerika allerdings der Löwenanteil von über 44 %. In den USA gibt es übrigens auch eine eigene Weihnachtsmesse nur für Haustiere.

 

Weltweit hat das Zusammenleben mit Heimtieren zugenommen, vor allem in Indien und Russland. Wir halten in Europa insgesamt 285 Mio. Haustiere, die meisten in Russland, Deutschland, Italien und Frankreich.

 

Der Markt ist auch in Krisenzeiten noch immer wachsend, weil die Tiere in den erschlossenen Märkten genauso gewissenhaft gepflegt werden wie Kinder. Der Begriff „pet parent“ hat sich etabliert.

 

 

Ist das noch „normal“?

 

Die emotionale Bindung wird immer stärker, immer wichtiger. Wir können jetzt empört sein und kopfschüttelnd auf die Hundebesitzerin schauen, die im trendy Tragegurt ihr neckisch frisiertes Ersatzbaby spazieren trägt.

 

Doch was passiert denn da? Gehen wir mal eine Schicht tiefer und fragen uns, wie wir Menschen (Frauen sicher noch mehr als Männer) denn angelegt sind, damit diese Entwicklung überhaupt stattfinden kann.

 

Natürlich ermöglicht in erster Linie steigender Wohlstand diese Haltung. Zum zweiten ersetzt digitale Vernetzung bei vielen Menschen zunehmend echte Kontakte. Es kann aber nicht gut gehen, wenn man sich immer mehr in Scheinwelten und Schein-Freundschaften zurückzieht, weil „offline“ nun mal nicht so bunt und spannend und mühelos ist. Trotz aller „likes“ und zahlloser Follower: viele vereinsamen nur noch mehr. Man muss ja kaum noch aus dem Haus, um seinen Bedarf an Unterhaltung, Gütern aller Art, von mehr will ich hier gar nicht sprechen, zu decken.

 

Doch auf ein Tier ist immer Verlass: Dieser offline-Bereich ist einfach, übersichtlich. Die Treue meines Hundes lässt nie nach, die Katze stellt keine Fragen, das Pferd bringt mich wieder ins Gleichgewicht. Das Tier schafft echte Kontakte, zwingt uns, regelmäßig rauszugehen, spricht Emotionen an.

 

 

Von Tamagochis und einem Baseball

 

Bohren wir noch ein bisschen tiefer: Wir brauchen ein Gegenüber, wir wollen uns kümmern. Das ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Dabei unterscheidet unser Gehirn aber nicht zwischen real und virtuell.

 

Wer erinnert sich an die Tamagochis aus den späten 90ern? Ich war fassungslos, als damals eine Freundin von mir, Juristin, ca. 40 J., SOFORT nach dem Kino nach Hause musste, um ihr Tamagochi zu füttern. Es wäre sonst verhungert. Kein Scherz, ich komme bis heute nicht drüber weg. Immerhin sind wir da weitergekommen: sie könnte das heute mit ihrem Smartphone bequem von unterwegs erledigen.

 

Zurzeit sind (längst nicht mehr nur in Asien) täuschend lebensechte Babypuppen der begehrte, pflegeleichte Kinderersatz: sie sitzen im Restaurant dabei, bekommen einen Sitz im Flieger, einen Kindersitz im Auto, eigene Garderobe etc. Alles, was an Muttergefühlen da ist, wird projiziert auf diese Nachbildung aus Vinyl. Schlimm? Dann doch lieber einen kleinen süßen Welpen verwöhnen?

 

Sie haben vielleicht die geniale Robinsonade mit Tom Hanks gesehen, „Cast away – verschollen“. Um in seiner jahrelangen Einsamkeit auf der Insel nicht durchzudrehen, schafft er sich ein Gegenüber in Gestalt eines Baseballs, dem er ein Gesicht aufmalt.

 

Als der Ball („Wilson“) auf dem Meer weggeschwemmt wird, heult er Rotz und Wasser, eben wie um einen echten, verlorenen Freund. Das war der Ball in der Tat auch, er hat ihm zumindest psychisch das Leben gerettet.

 

Ich habe bei dieser Szene selbstverständlich ausgiebig mitgeheult, denn auch mein Stammhirn funktioniert genau gleich und unterscheidet nicht zwischen Realität und Fiktion, eben auch nicht zwischen Mensch, Puppe, Tier oder Ball.

 

Wenn wir uns das klarmachen, dann haben wir zumindest eine Verständnishilfe für die überzogene Hinwendung zum Tier, das unser Leben in einer überfordernden Realität einfacher, emotionaler und strukturierter macht, Lücken füllt, Bedürfnisse befriedigt. Ist schon irgendwie traurig, aber eben wahr.

 

Christine Schell

Supra-Cell GmbH

Rastatt

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Kommentare: 4
  • #1

    Beatrix Posselt (Mittwoch, 22 Juni 2016 16:20)

    Sehr interessanter BLOG. Danke Christine!
    Wer selbst Tierbesitzer war oder noch ist, weiß wie Tiere ans Herz wachsen können. Wenn man nach Hause kommt, begrüßt uns ein mit dem Schwanz wedelnder Vierbeiner, ist immer gut gelaunt und nimmt unsere Laune vorbehaltlos an. Da kann man schon nachvollziehen, dass bei manchen Menschen die Liebe zu einem Tier ausufern kann.

  • #2

    Marion Hofmann (Mittwoch, 22 Juni 2016 21:29)

    Christiiine, ich liebe es, Dich zu lesen! Mit jedem geschriebenen Wort höre ich Dich reden. Fantastisch.

  • #3

    Jutta Barbara Sommer (Mittwoch, 22 Juni 2016 22:06)

    ... zum Glück gibt es das Stammhirn, das "schuld" ist an solchen Auswüchsen. Die perfekte Entschuldigung für den Menschen, um über sein Handeln / sein Leben nicht nachdenken zu müssen - geschweige denn etwas zu ändern.

  • #4

    Irmgard Stamm (Montag, 01 August 2016 22:19)

    Klasse, Christine! Das Kümmern ist es, das der Mensch braucht, um sich als not_wendig zu erleben, jemand, der die Not wendet und wichtig ist. Aber wie wär´s mit Kümmern um Menschen? Davon hat´s doch überall genug.